Glaziologie für Anfänger
Gletscher und Eisschilde
Ein Gletscher ist ein fließendes Eis-System. Das System wird gespeist durch Niederschlag (meist in Form von Schnee). Der Schnee verwandelt sich durch Verdichtung und Rekristallisation in Eis. Das Eis fließt unter dem Druck seines eigenen Gewichtes. In den tieferen Lagen des Gletschers, schmilzt das Eis an der Oberfläche. So wird die Eismasse wieder reduziert. Die Bilanz aus Schneezutrag (Akkumulation) und Schmelzen (Ablation) bestimmt Wachstum oder Abnahme des Gletschers. Wir unterscheiden temperierte Gletscher (Temperatur im Sommer überall auf Druckschmelzpunkt ) und kalte Gletscher ( Temperatur im Innern ganzjährig unter Druckschmelzpunkt.
Die lebensnotwendigen Bereiche eines Gletschers sind (1) die Akkumlationszone, mit einem Netto-Gewinn an Eis und (2) die Ablationszone, wo das Eis durch Schmelzen, Kalben (Abbrechen von grossen Eisblöcken einer Gletscher-kante, die gewöhnlich ins Wasser fallen) und Verdunstung abgebaut wird. Die Grenze zwischen diesen Zonen ist die Gleichgewichtslinie. In der Akkumulationszone wird der Schnee in Gletschereisverwandelt.
Innerhalb der Akkumu-lationszone ändern sich die Schneebedingungen kontinuierlich mit dem Abstand zur Gleichgewichtslinie, im wesentlichen bedingt durch die Abnahme der Temperatur. Man unterscheidet im wesentlichen 4 Schneezonen innerhalb des Akkumulationsgebiets:
1. Trockenschneezone: Hier tritt kein Schmelzen der Schneedecke auf, d.h. die Temperatur ist ganzjährig 0°C, was eine mittlere Jahrestemperatur von weniger als –25° C erfordert. In dieser Zone bleibt somit die Schichtung (Stratigraphie) sowie die Chemie der einzelnen Niederschlagsereignisse quasi unberührt. Dies ist die bevorzugte Zone für Eiskernbohrungen.
2. Perkolationszone: In dieser Zone tritt nur im Sommer vereinzelt Schmelzen an der Schneeoberfläche auf. Das Schmelzwasser dringt in darunter liegende Schnee-schichten ein und gefriert dort wieder. So entstehen Eislagen oder -linsen. Eiskernstudien können bedingt auch in dieser Zone durchge-führt werden, wenn das Schmelzwasser nicht in Schichten vergangener Jahre eindringt. Solche Bedingungen werden an geeigne-ten Stellen hochalpiner Gletscher angetroffen.
3. Nassschneezone: Hier steigt die Temperatur in der gesamten Schneedecke eines Jahres bis zum Schmelzpunkt. Hier tritt vermehrt Perkolation von Schmelzwasser auf. Das Schmelzwasser kann auch in ältere Schneeschichten eindringen.
4. Aufeiszone: In der Perkolations- und Nassschneezone tritt Eis als vereinzelte Eislagen und -linsen auf. In der Aufeiszone (superimposed ice) dagegen gefriert soviel Schmelzwasser wieder, dass dieses eine durchgehende Masse klaren (ohne Luftblasen) Eises bildet.
Ein Maß für die Massenbilanz an der Gletscheroberfläche an einem Punkt des Gletschers ist die Differenz von Zutrag (Akkumulation) und Verlust (Ablation) in einem definierten Zeitintervall. Aufgrund der jahreszeitlichen Schwankung der Temperatur weist die Massenbilanz in Gebieten, die im Sommer über dem Schmelzpunkt liegen eine saisonale Variation auf. Im Winter wird Schnee akkumuliert, der im Sommer wieder abschmilzt. Aus praktischen Gründen (Messung der Nettomassenbilanz erfordert eine ständige Beobachtung des Gletschers) kann meist bei Massenbilanzstudien nur die (mittlere) jährliche Massenbilanz angegeben werden. Nur selten kann die Sommer- oder Winterbilanz getrennt berechnet werden.
Die Trockenschneezone ist die bevorzugte Zone für Eiskern-bohrungen, hier können zeitliche Änderungen in klimatischen Parametern rekonstruiert werden. Neben Schmelzen des Eises kann auch Wind-verfrachtung die Stratigra-phie stören. Mindestkrite-rium für ein vollständiges Archiv ist, dass netto nicht ganze Jahresschichten aus dem Eiskernarchiv entfernt werden dürfen. Diese Bedingungen trifft man fast nur auf den Plateaus der großen Eisschilde an. Ausgehend von der jährlichen Massenbilanz M kann ein Gletscher in Akkumulations- und Ablationsgebiet aufgeteilt werden mit M>0 : Akkumulationsgebiet (es fällt mehr Schnee als verlorengeht) M<0 : Ablationsgebiet (mehr Eis schmilzt als Schnee fällt oder Kalben von Eisbergen ). Die beiden Gebiete werden durch die sogenannte Gleichgewichtslinie (M=0) getrennt.
In Grönland erfolgt der Massenverlust des Inlandeises in etwa je zur Hälfte durch Kalbung und Schmelzen . In der Antarktis erfolgt ein Großteil des Abflusses vom Inlandeis über so genannte Schelfeise, das heißt, kontinentale Eisströme, die auf dem Ozean aufschwimmen, aber meteorischen (aus Niederschlag gebildet) Ursprungs sind und nicht aus Meereis gebildet wurden.
Die Messung der Akkumulation erfolgt z.B. an Firnkernbohrungen oder in Schneeschächten. Hier können saisonale Strukturen (in Dichte, Ionengehalt, Isotopie etc.) im Firn genutzt werden, um Jahres-schichtdicken zu bestimmen. Misst man zusätzlich noch die Dichte des Firns, kann die Akkumulation abgeleitet werden. Eine zweite Möglichkeit sind Pegelfelder, wo an Stangen der jährliche Schneezutrag direkt abgelesen werden kann und dann mit der Schneedichte gewichtet werden muss.
Für kleinere Gletscher wird zur Massenbilanz-bestimmung häufig die hydrologische Methode angewandt, bei der das gesamte vom Gletscher abfließende Schmelzwasser im Gletscherbach (Gesamtabfluss R) gemessen wird, zusätzlich wird die Niederschlagsrate P an repräsentativen Punkten des Gletschers und die Evaporationsrate E ge-messen oder abgeschätzt . Die Gesamtmassenbilanz ergibt sich dann gemäß: M=P-R-E
Mit Hilfe von Photogrammetrie können Änderungen der Gletscheroberfläche festgehalten und dann in Massenänderungen überführt werden. Für großflächig Bestands-aufnahmen bieten sich neuerdings Luftbilder und vor allem Satellitenaufnahmen an. Hier kann relativ einfach die Lage der Gleichgewichtslinie, die in etwa mit der Altschneegrenze am Ende der Schmelzsaison übereinstimmt, bestimmt werden. Das Verhältnis der Fläche des Akkumulationsgebietes zur Gesamtgletscherfläche ist ein Maß für dessen Massenbilanz. Eine Daumenregel besagt, dass ein Verhältnis von 0.7 auf einen Gleichgewichtszustand des Gletschers hindeutet.
Für große Eisschilde wie Grönland und die Antarktis ist eine flächen-deckende Messung der Massen-bilanz schwierig. Insbesondere das Registrieren von Eisbergkalbung ist mit grossen Unsicherheiten behaftet. Hier ist eine Abschätzung der Gesamtablation durch das Messen von Fliessgeschwindigkeiten von Eisströmen und Schelfeisen zusammen mit Messungen der Dicke des Eises an dieser Stelle eine genauere Methode. Eisdickenmessungen z.B. durch satellitengestützte Laseraltimetrie sind ein weiterer praktikabler Weg, die Änderung der Massenbilanz großer Eisschilde zu quantifizieren. Abbruch von Eisberg A-38 bei Filchner Ronne Schelfeis Copyright 1997, 1998 Canadian Space Agency (Ein Klick auf das Bild startet die Animation)